Zehn Jahre und ein paar Monate sind mittlerweile schon vergangen, seitdem She She Pop mit „Schubladen“ die Ost-West-Klischees produktiv aufeinander prallen ließen. Die amüsante Zeitreise war bis 2019 fast jedes Jahr wieder im HAU zu sehen und tourte durch Europa. Seit dem im März 2020 dem Lockdown zum Opfer gefallenen Gastspiel in Jena wurde „Schubladen“ zwar nicht mehr auf der Bühne aufgeführt, She She Pop führt den Abend auf ihrer Website allerdings weiter im Repertoire und hat ihn noch nicht ins Archiv verschoben.
Nun gibt es mit „Mauern“ einen Nachklapp. Im bewährten Durch-Rotier-Modus des She She Pop-Kollektivs kommen an jedem Abend wieder vier Spieler*innen auf die mit Bücherstapeln zugemüllte Bühne, um eine Bestandsaufnahme zu machen: Was wird noch gebraucht? Was kann drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall und ein Jahrzehnt nach „Schubladen“ weg?
Heute Abend waren es Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Lisa Lucassen und Peggy Mädler, die sich in launigem Pingpong fragten, ob Marx, Germaine Greer oder die Bibel noch zu gebrauchen sind. Von Beginn an gibt Peggy Mädler, die auch eine der Dramaturginnen des Abends war, den Ton vor. Immer wieder lamentiert sie, dass sie als Ostdeutsche an den Rand gedrängt werde und als einzige Ost-Frau aus der „Schubladen“-Produktion einer West-Übermacht gegenüberstehe. Wortreich beklagt sie den Ausverkauf des Ostens durch die Treuhand. Empört verlässt sie die Bühne und zieht sich hinter die Gaze-Wand zurück, auf die immer wieder Fotos bröckelnder Fassaden aus der Zeit des Mauerfalls oder die verstrahlten Landschaften um Tschernobyl projiziert werden.
„So kommen wir nicht weiter“, werfen die anderen drei ein. Den historischen Fakten des Ausverkaufs haben sie nichts entgegenzusetzen, aber die Geschichte lässt sich auch nicht einfach zurückdrehen. Eine tiefe Ratlosigkeit liegt über dem Abend. Eine Ratlosigkeit, die gut zur Zeitstimmung einer von Corona, Krieg und Energiekrise gebeutelten Gesellschaft passt.
Das Problem der „Mauern“-Produktion ist jedoch, dass sie nicht darüber hinauskommt, diese Ratlosigkeit immer wieder zu betonen und auszustellen. Stattdessen verzettelt sie sich: sehr aufwändig werden die schon erwähnten historischen Bilder projiziert, zwischen denen die Spieler*innen herumspazieren und in Folklore-Gewändern später auch tanzen. Die Aufnahmen werden aber nicht für einen spannenden Diskurs genutzt, der Erkenntnisgewinn bleibt gering. Noch magerer ist das Ergebnis der Videoschalten zu zwei Außenposten des She She Pop-Kollektivs: wie Fremdkörper in einer nicht zu Ende gedachten Inszenierung wirken Natasha Borenko (zugeschaltet aus Sibirien) und Jahye Khoo aus Südkorea, die sich in einem merkwürdigen Bestattungsritual mit aufprojiziertem Schnurrbart beisetzen lassen will. Spätestens bei diesem Schlusspunkt wirkt der 90 Minuten kurze Abend nur noch bizarr.
„Mauern“ ist eines der enttäuschendsten Stücke von She She Pop und nur eine Fußnote zu „Schubladen“, einer ihrer interessantesten Arbeiten.
Bild: Dorothea Tuch