So schrullig wie die fransige Perücke, unter der sich Paul Grill als Erzähler versteckt, ist auch der Rest von „Dem Marder die Taube“ von Caren Jeß. Die schleswig-holstenische Dramatikerin mit dem Faible für allerlei Getier, das sich in ihren Stücken tummelt, wurde in den vergangenen Jahren vor allem von Iris Laufenberg, noch Intendantin in Graz und ab der neuen Spielzeit neue Chefin am DT Berlin, gefördert. Seit 2019 waren ihre Uraufführungen regelmäßig bei den Autor:innentheatertagen zu Gast.
2023 hatte sie die Ehre, die lange, wirklich sehr lange Nacht und das gesamte Festival mit ihrem neuen Stück zu eröffnen. Auf den ersten Blick erzählt sie darin von der zärtlich-unbeholfenen Annäherung von zwei Außenseiterinnen. In Elmshorn, im Schatten des Verwaltungshochhauses der Teppich Kibek-GmbH, wie Grill mit sonorer Erzählerstimme immer wieder betont, lernen sich Erike (Linn Reusse), die in dem Städtchen im Hamburger Speckgürtel geboren und aufgewachsen ist und dort wohl auch sterben wird, und die sächselnde Theta (Anja Schneider) kennen, eine ehemalige Kuratorin am Deutschen Historischen Museum, die vor Künstlerinnenblase und Großstadt-Trubel aufs Land floh. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Tauben aufzupäppeln und Marder mit speziellen Geruchsbomben von ihrer Beute zu vertreiben.
„Dem Marder die Taube“ lebt vor allem vom Spiel von Reusse/Schneider, die das Beschnuppern, die scheuen Kontaktversuche und das Zurückstoßen der beiden Hauptfiguren, wunderbar miterleben lassen. Für skurrile Brechungen sorgen die Eltern von Erike (Sidney Fahlisch, Ananda Luna Cruz Grünbauer), die puppenhaft mit grellen Kostümen am Tisch kauern und den Sprechgesang der Elmshorner Punkband „Your Toothbrush“ performen, die Caren Jeß für dieses Stück erfunden hat und die aus Erikes Küchenradio dröhnt.
Das merkwürdige Verhältnis von Erike zu ihren Eltern ist wesentliches Alarmzeichen, dass diese kleine, unterhaltsame Tragikomödie noch eine weitere Ebene hat. Nach dem finalen Twist erfahren wir, dass doch alles ganz anders ist als es schien. Die beginnende Freundschaft, über die Erike so glücklich war, nicht mehr als eine Kopfgeburt…
Von Caren Jeß können wir noch weitere schräg-schöne Tierwelt- und Menschenerkundungen in den kommenden Jahren erhoffen. Bei der aktuellen Arbeit führte Stephan Kimmig Regie, ein besonders langjähriger Weggefährte von Ulrich Khuon Regie: die größten Erfolge feierte er schon in der gemeinsamen Zeit am Hamburger Thalia Theater. In den schwierigen Anfangsjahren am DT, über die Khuon in mehreren Interviews offen sprach, gehörte er zum Hausregie-Team, verschwand aber nach einigen schwächeren Inszenierungen mehr und mehr in der zweiten Reihe und bekam hier seinen würdigen Abschied. Die große Bühne war für diese zärtlich-komische Arbeit fast ein bisschen zu groß.
Wie treu Ulrich Khuon in seinen Arbeitsbeziehungen ist, zeigte sich auch an den beiden folgenden Uraufführungen der „Langen Nacht“. Autorin Nele Stuhler und Regieassistentin Sarah Kurze durften ihre „Gaia“-Trilogie zuende bringen. Der letzte Teil „Gaia am Deutschen Theater (GÖ)“ litt wieder darunter, dass er streckenweise zu albern war. Zu viele Ideen und Nebenpfade packte Stuhler ihren Text, neben dem Jugend-Club wuselte auch ein beträchtlicher Teil des DT-Ensembles über die Bühne.
Seine besten Momente hatte diese Fantasy-Satire über die Schöpfer-Göttin (Maren Eggert), die im Theaterbetrieb aufräumt, als Lisa Hrdina ihr komödiantisches Talent ausspielte. Sie frotzelte auch mit kleinen Anspielungen auf die Eröffnungsrede des scheidenden Intendanten, der in langen 30 Minuten den ganz großen Bogen von den Anfängen am Bodensee und im Schwarzwald bis zu Michael Althen schlug, der meinte, noch an jedem gescheiterten Projekt lasse sich etwas Interessantes finden.
Zu den interessanteren Passagen dieser heillos überfrachteten Gaia-Saga gehörte kurz vor Schluss noch eine Parodie auf die Vorbereitungen zur Demo am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, die von Künstler*innen des DT maßgeblich vorbereitet wurde. Zwischen all den Anspielungen auf das „Tun – Leiden – Lernen“-Prinzip der griechischen Tragödie und klamaukigen Gags knirschte es bei der Gaia-Comedy im dramaturgischen Gebälk.
Nach einer langen Pause meldete sich schließlich der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss zurück: Mit ihm arbeitete Khuon auch schon in Hamburg, sein „Öl“ war ein kurioses Missverständnis zum Auftakt der Intendanz 2009. „Verführung“ ist ein Kammerspiel mit Live-Klavier-Begleitung von Tamás Matkó über den Hochstapler Hauke Born, der eine Erbin um sieben Millionen prellte. Ulrich Matthes macht aus der Rolle des manipulativen Verführers eine große Uli Matthes-Show mit Italo-Pop und Seufzen über den drohenden Abstieg zur Fensterfabrik in Fulda, wo er nach dem Knast resozialisiert werden soll. Dafür harrte ein Großteil des Publikums auch bis kurz nach Mitternacht aus.
Sehr bemüht und wie ein Fremdkörper wirkte der Monolog von Julia Windischbauer, die ansonsten Borns plötzlich auftauchende Tochter Sonja Schwarz spielt: in einer Rückblende geht es um die SS-Verbrechen an NS-Zwangsarbeitern kurz vor Kriegsende 1945 in Gardelegen, das ergaunerte Millionenvermögen soll aus dieser Zwangsarbeit stammen. Das kurze Stück wirkt arg konstruiert, überrascht aber dann doch noch mit einem finalen Twist.
Für die nächsten anderthalb Wochen haben die Dramaturg*innen Bernd Isele, der diese Aufgabe auch künftig ausfüllen wird, und Franziska Trinkaus ein vielversprechendes Gastspiel-Programm kuratiert, das es in Quantität und Qualität auch mit dem gleich danach beginnenden Theatertreffen aufnehmen kann.
Bilder: Arno Declair