Ich dachte anfangs, das hört sicher wieder auf. Aber es ging immer so weiter und weiter. Mit diesem Seufzer fasste eine Münchner Theaterbesucherin ihr erstes Erlebnis mit Ulrich Rasches formstrengen Drehbühnen-Exerzitien zusammen. Die Live-Band am Marimbaphon (Sebastian Hausl, Felix Kolb, Cristina Lehaci, Fabian Strauss) thront in der Bühnen-Mitte, der Chor marschiert unermüdlich über die Drehbühne und beklagt des Schicksal der gefallenen Trojaner und den Fluch der Atriden.
Mit „Agamemnon“ erlebt Ulrich Rasche ein doppeltes Heimspiel. Mit dieser Koproduktion mit dem Epidauros Festival, wo die Inszenierung bereits vor anderthalb Jahren ihre Premiere hatte, kehrt er an den Ort seines größten Triumphs zurück. Mit den „Räubern“, einem Ungetüm aus meterlangen Laufbändern und Walzen, das in seinen überdimensionalen Ausmaßen so überwältigend war, dass die Berliner Festspiele beim Theatertreffen 2017 keinen passenden Ort finden konnten, erlebte Rasches Karriere am Münchner Residenztheater seinen Durchbruch. Ein Heimspiel ist dieser Agamemnon-Abend aber auch, da er wieder auf sein vertrautes Terrain zurückkehrt: die archaische Wucht der Tragödie des Aischylos, die Walter Jens übertragen hat, passt von allen Genres und Textgattungen nach wie vor am besten zu Rasches Regiestil, der im Programmheft-Interview die griechische Tragödie als Inspiration und zentralen Referenzpunkt benennt.
Dieser „Agamemnon“ eignet sich hervorragend als ein Rasche-Abend für Einsteiger. In den vergleichsweise kurzen zwei Stunden führt der Regisseur all seine Markenzeichen vor, an denen sich die Geister der Theaterwelt scheiden. Es hat immer noch eine große Meisterschaft, wie der Chor von Nico von Werschs Klangteppich vorwärts gepeitscht wird, auch wenn regelmäßigere Theatergänger diese Versatzstücke bereits aus mehreren Inszenierungen kennen und der Stil mittlerweile wie von Claudia Bauer in ihrer „Valentiniade“ karikiert wird.
Allerdings fehlt diesem „Agamemnon“ auch etwas. Zu sehr wirkt dieser Abend wie ein Heimspiel, das auf vertrautem Gelände seine eigene Virtuosität ausstellt. In einem Theaterjahr, das mit Rasches Ausflug ins Lustspiel-Fach mit Georg Büchners „Leonce und Lena“ am Deutschen Theater Berlin begann und mit dem raren Auftritt der Ausnahmespielerin Valery Tscheplanowa als „Nathan der Weise“ bei den Salzburger Festspielen einen Höhepunkt hatte, wirkt dieser Antiken-Abend wie eine routinierte Fußnote, die von wuchtigeren Abenden überstrahlt wird. Dem „Agamemnon“ fehlen die Reibung mit dem unerwarteten Genre und die besondere Strahlkraft einer solchen Protagonistin, die mit dem strengen Korsett spielt und über es hinauswächst.
Eine Entdeckung gibt es unter so viel Vertrautem und nur leicht Variiertem aber doch noch zu machen: unbedingt hervorzuheben ist Pia Händler als Klytemnästra, die als einzige Figur ein wenig Individualität bekommt und nicht vom Chor vereinnahmt wird. In ihrem Auftritt vorne an der Rampe verdichtet sich diese Erzählung vom ausweglosen Kreislauf der Gemetzel eindrucksvoll. Die Nebelschwaden werden in blutiges Rot getaucht. Selbstbewusst erklärt sie die Motive für ihre Rache und verkündet ihren Triumph. Dieser währte bekanntlich nur kurz. Ödipus rächt den Mord an Agamemnon und metzelt Klytemnästra und ihren Liebhaber Ägisth nieder. Diesen Teil der Orestie erzählte Rasche schon 2021 am Deutschen Theater Berlin. So geht es weiter und weiter und immer weiter…
Bilder: Birgit Hupfeld