Tambourines

Compagnie-Chef Trajal Harrell und zwei Tänzer*innen stehen minutenlang vorne an der Rampe und beobachten, wie sich der Saal füllt. Dann fordern sie das Publikum auf, bitte die Smartphones zu zücken und auf Wikipedia die Zusammenfassung des Roman-Plots „Der scharlachrote Buchstabe” von Nathaniel Hawthorne durchzulesen. Das Trio zieht sich erstmal wieder zum Umziehen hinter die Kulissen zurück.

Dieses ironische Brechen von Erwartungen ist charakteristisch für den Stil des Intendanz-Duos Nicolas Stemann/Benjamin von Blomberg. Mit acht Hausregisseur*innen waren sie am Schauspielhaus Zürich angetreten, einer von ihnen Trajal Harrell, den sie von den Münchner Kammerspielen mitbrachten. In der vergangenen Spielzeit, als das Aus für Stemann/von Blomberg besiegelt war, präsentierten sich alle Hausregisseur*innen noch einmal. Die letzte Zürcher Arbeit von Harrell war „Tambourines“ in der Schiffbau-Box, sehr frei inspiriert vom eingangs genannten Roman.

Was wir in den 80 Minuten erleben, ist eine Harrell-Choreographie in Reinform: das Spiel mit der Mode, die häufigen Kostümwechsel vor allem im dritten und letzten Akt, das Posieren und Voguen, vor allem aber die charakteristischen schwingenden Bewegungen des Ensembles, die an den fernöstlichen Butoh-Tanz erinnern.

Als Abschluss-Stück des Zürich Dance Ensembles und auch für die Harrell-Werkschau des koproduzierenden Festival d’Automne à Paris, wo FAZ-Expertin Wiebke Hüster den Abend sah und ins Schwärmen geriet, ist „Tambourines“ hervorragend geeignet. In diesem Signature Piece lässt sich die Handschrift von Harrell sehr gut studieren. Die Schattenseite: Die Ästhetik wirkt austauschbar. Was hat Harrell gerade an diesem Roman über das puritanische Amerika des 17. Jahrhunderts interessiert? Dies bleibt unter der eleganten Oberfläche verborgen.

Mit dem „Scarlett Letter“-Roman befasste sich vor einigen Jahren auch eine Choreografin, die einen deutlich raueren Stil, aber ebenfalls eine klar wiedererkennbare Handschrift pflegt: Angelica Liddell arbeitete in ihrer Adaption, die 2019 bei den Maifestspielen Wiesbaden und 2021 bei FIND an der Schaubühne gastierte, die Scham als zentrales Thema des Romans heraus und fand somit den überzeugenderen persönlichen Zugang zum Stoff.

Ein Jahr nach dem Aus von Stemann/von Blomberg gastierte Harrell mit „Tambourines“ am vergangenen Wochenende im HAU 1, wo schon einige Vorgänger-Arbeiten zu sehen waren. In Uli Khuons Zürcher Interims-Intendanz wird der Abend vom 24.-26.4. wiederaufgenommen.

Bilder: Orpheas Emirzas

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