Everyday live – Abschied von Carl Hegemann

Geballte Prominenz von zwei großen Häusern, die Carl Hegemann in den vergangenen drei Jahrzehnten geprägt hat, versammelte sich an diesem heißen Abend auf der Bühne: er war nicht nur einer der prägenden Köpfe der Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz, sondern wirbelte als lockiges „Springteufelchen“, wie Frank Castorf seinen Chefdramaturgen mal bezeichnete, auch sonst quer durch die Theaterszene und hinterließ am Thalia Theater Hamburg besondere Spuren, das sich in diesen Tagen von Intendant Joachim Lux und Hausregisseurin Jette Steckel verabschiedet.

An einem ihrer größten Erfolge, der „Romeo und Julia“-Inszenierung am Thalia, war Hegemann als Dramaturg beteiligt. Ein kurzer Ausschnitt aus dem Liebesdrama des Hauptdarsteller*innen-Duos Birte Schnöink/Mirco Kreibich und ein Song von Soap&Skin (Anja Plaschg) werden etwa zur Hälfte dieser langen, dreistündigen Revue gezeigt, die Steckel und ihr Bühnenbildner Florian Lösche eingerichtet haben.

Im Mittelpunkt stehen statt persönlicher Anekdoten die Schriften und das wilde, assoziative Denken von Carl Hegemann. Wie bunt und vielfältig dieser philosophisch-soziologische Kosmos war, den Hegemann in dem ihm eigenen schnellen Tempo durchmaß, zeigen die Schnipsel aus seinen Texten, die Schauspiel-Promis lesen: Kathrin Angerer performt Hegemanns wütendes Manifest aus der Castorf-Frühphase 1993, Joachim Meyerhoff und Martin Wuttke lesen aus seinem letzten Gespräch mit Boris Groys.

Aus dem Archiv werden immer wieder Aufnahmen aus dem Chance 2000-Projekt von Christoph Schlingensief und Hegemann eingespielt, einen kurzen Schnipsel gibt es auch aus Castorfs „Idiot“ (2002) mit Sophie Rois und Herbert Fritsch in jungen Jahren. Am schönsten ist es, wenn es zwischen all den Theorien, die Hegemann ebenso liebte wie das Mango- und Karamel-Eis, das zu Beginn gratis verteilt wurde, doch mal ganz persönlich wird. Lynn T. Musiol, eine Mitbewohnerin aus der Bötzowstraße, nimmt per Plüschtelefon zu Hegemanns Off-Stimme Kontakt auf und erinnert sich, wie er ständig telefonierend und Theaterproduktionen quer durch die Republik betreuend Ideen schmiedete und unermüdlich redete, bis ihr fast der Kopf platzte.

Auch das Trommelfell platzte fast, als Volksbühnen-Urgestein Silvia Rieger mit ihrer Band nach halbstündiger Eis-in-der-Abendsonne-genießen-Verspätung losrockte und anschließend Mirco Kreibich mit der Axt auf den Bühnenboden eindrosch. Eindrucksvoll war, wie präzise Steckel/Lösche die Lichtregie zwischen den Miniaturen konzipiert haben. Leider wurden hier aber Perlen vor die Säue geworfen: Penetrant störten die grell erleuchteten Smartphone-Displays fast jede Szene. Carl Hegemann ist vor wenigen Wochen mit 76 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben und kann uns keine Theorie mehr liefern, warum Instagram-und TikTok-Sucht so um sich greifen und diese ansonsten sehr kraftvoll-würdige Abschiedsrevue stören.

Bilder: Thomas Aurin

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