Paradise Now (1968 – 2018)

Die „Generation Selfie“ lädt zu einer Zeitreise-Revue durch die vergangenen fünf Jahrzehnte ein: Ikonische Bilder (für jedes Jahr eines) werden von 13 Jugendlichen und jungen Erwachsenenen zwischen 14 und 23 nachgestellt, ganz ohne Worte, Schlag auf Schlag, mit erstaunlicher Perfektion einstudiert. Der Fokus liegt ganz klar auf den politischen Ereignissen: sie performen die Hoffnung auf „Change“ bei Obamas Wahlsieg, den Schrecken von 9/11 und des Genozids von Srebrenica. Sie lassen aber auch berühmte Szenen aus der Popkultur einfließen, ein junges Pärchen imitiert die „Titanic“-Pose von Leonardo diCaprio und Kate Winslet.

Nach diesem recht amüsanten ersten Akt kippt die Stimmung. Die Zeitreise hat ihren Nullpunkt erreicht. Für das Jahr 1968 wählten der flämische Choreograph Michiel Vandevelde und sein Jugendtheater-Ensemble fABULEUS eines der berühmtesten Bilder des 20. Jahrhunderts. Am 1. Februar 1968 hielt Eddie Adams fest, wie der Polizeichef von Saigon einen Zivilisten mit Kopfschuss hinrichtete. Dieses Bild wird von den jungen PerformerInnen wieder und wieder mit wechselnden Rollen nachgestellt, sie halten sich imaginäre Pistolen an die Schläfen und sinken zu Boden.

Weltweit sorgte dieses Verbrechen für Empörung, die öffentliche Meinung drehte sich in den USA gegen den Vietnamkrieg, es war eine der Initialzündungen für die Studentenrevolte. Das „Living Theatre“ brachte damals in New York das Stück „Paradise Now“ heraus, auf das dieser neue Abend anspielt. Nach Zeitzeugenberichten sorgte dieses vierstündige Happening damals für einen Skandal und schockte das Establishment: nackte Hippies, die sich unter das Publikum mischten, es zur Teilnahme an der Revolution agitierten und oft wilde Orgien feierten.

Der zweite Akt von „Paradise Now (1968 – 2018)“ wird zur Hommage an das Original. Schon aus Gründen des Jugendschutzes agiert das fABULEUS-Ensemble wesentlich zurückhaltender als die ProtagonistInnen vor 50 Jahren. Sie schreien Parolen gegen den Krieg und für freie Liebe, die ersten T-Shirts werden weggeworfen. Lange wahren sie einen „gewissen Abstand“ zu den Zuschauern, wie Elena Philipp in ihrer Nachtkritik zur Deutschlandpremiere schrieb. Die Älteren klettern aber dann doch durch die engen Sophiensaele-Stuhlreihen und konfrontieren das „Tanz im August“-Publikum hautnah mit nackten Tatsachen.

Im letzten Akt bitten die TänzerInnen das Publikum mit auf die Bühne. Nur ein kleiner Prozentsatz wollte dieser Einladung folgen. Das Licht wird völlig heruntergedimmt, nacheinander darf jeder der 13 Performer eine Bilanz ziehen. Düster und verzweifelt scheint den meisten die Weltlage in der Ära von Donald Trump und Syrien-Krieg. Die Revolutionsträume früherer Generationen wirken weit entfernt. Ist eine Politik der kleinen Schritte die Lösung?

Nachdenklich und mit einem großen Bündel von Fragen entlässt „Paradise Now (1968 – 2018), das im Mai beim Kunstenfestival in Brüssel uraufgeführt wurde und die Jubiläumsausgabe von „Tanz im August“ bereicherte, sein Publikum.

Bild 1: Clara Hermans, Bild 2: Kurt van der Elst

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