Mit dem dicksten Brocken begann das Theatertreffen: „Das Vermächtnis“ ist ein Broadway/Westend-Blockbuster, der in epischer Breite von der AIDS-Krise der 1980er und der gesellschaftlichen Spaltung im Trump-Amerika der Gegenwart erzählt. Philipp Stölzl hat dieses Stück mit großem, bis in die kleinste Nebenrolle hervorragend besetztem Residenztheater-Ensemble in deutscher Erstaufführung für die Bühne gebracht.
„Das Vermächtnis“ ist ein sehr fordernder und sicher in der zweiten Hälfte auch deutlich zu lang geratener Abend. In den besten Momenten wird allerdings der tiefe Schmerz über den Verlust einer ganzen Generation begabter homosexueller Männer, von Lehrern und Mentoren sehr deutlich spürbar.
In München wird die XXL-Inszenierung wahlweise auch in verdaulicheren Portionen auf zwei Abende verteilt. Aber auch die Berliner Mammut-Version wurde nach dem Gastspiel mit Standing Ovations gefeiert.
Mit seinem ersten großen Theaterabend sorgt Stölzl, der für seine Opern-Inszenierungen und Kinofilme bekannt ist, für eine Frischzellenkur für das Theater, das auf sehr eingefahrenen Gleisen schon vor den Corona-Lockdowns in seiner Blase vor sich hin werkelte. Die Konfrontation mit anderen Ästhetiken wurde von den meisten Kritikern bis auf einen mürrischen rbb-Kollegen doch recht wohlwollend aufgenommen: „Ganz unberührt aber geht man aus diesen heißen biografischen Wechselbädern nicht heraus“, formulierte es Rüdiger Schaper im Tagesspiegel anerkennend. „Ein blitzwaches, aufgeklärtes Well-made-Wunder“, lobte Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung.
Am darauffolgenden Abend des Eröffnungswochenendes wollte ich eigentlich noch mal Florentina Holzingers „Ophelia´s got talent“ sehen, die im September 2022 das Volksbühnen-Premierenpublikum zu Begeisterungsstürmen hinriss. Seit Monaten galt diese Arbeit als eine Top-Favoritin für die 10er Auswahl der bemerkenswerten Inszenierungen, die von der Jury jährlich gekürt werden. Auch Holzinger sprengt die Grenzen der derzeit gültigen Theater-Konventionen, bietet einen wilden Ritt voller feministischer Buzzwords durch Quiz-Show, Tanz, Spektakel und vor allem Hollywood-Action-Kino.
Leider machte mir das Virus einen Strich durch die Rechnung, das in letzter Zeit mit seinem hartnäckigen Husten so viele Theatersäle beschallt und ein Elbphilharmonie-Konzert an den Rand des Abgrunds brachte. Stellvertretend für all die Menschen, die mit Verve, Leidenschaft und Rücksichtslosigkeit ihre Viren durchs Parkett schleudern, möchte ich Martin Wuttke, meinem ATT-Sitznachbarn kurz vor Start des Theatertreffens, danken.
Im Schatten der beiden großen Events stand die dritte Eröffnungs-Inszenierung: Sebastian Hartmanns Musical „Der Einzige und sein Eigentum“, eine spätsommerlich leichte Revue, mit der das DT Berlin in die Spielzeit startete. Bemerkenswert an diesem zwei Stunden kurzen Abend war, dass der Theatertreffen-Stammgast diesmal nicht eine sehr quälenden Roman-Adaptionen stemmte, die sich in Assoziationen verlieren, sondern überraschend leichtfüßig auch das spielerische Unterhaltungstheater beherrscht. Mit Spielerinnen und Spielern wie Anja Schneider, Cordelia Wege und Niklas Wetzel kann ohnehin wenig schief gehen.
Auch die beiden weiteren Gastspiele, die ich hustend verpasst habe, habe ich schon im Repertoire der jeweiligen Häuser gesehen. Die Berliner Kritik teilt hier meine Meinung, dass sie in die beliebte tt-Rubrik fallen: Warum hat die Jury das denn eingeladen? „Der Bus nach Dachau“, den das Schauspielhaus Bochum in Kooperation mit der niederländischen Gruppe „De Warme Winkel“ herausbrachte, las sich auf dem Papier als interessante Reflexion über den Holocaust. In der Praxis wirkt der Abend aber zäh und unfertig, wie in der zweiten Probenwoche steckengeblieben, konstatierte rbb-Kritikerin Barbara Behrendt gewohnt treffsicher.
Die „Nora“ von den Münchner Kammerspielen hatte mit einer kurzfristigen Umbesetzung (Bernardo Arias Porras für Thomas Schmauser) und technischen Problemen am Gothic-Bühnenbild zu kämpfen. Ich habe Felicitas Bruckers Spielzeit-Eröffnungs-Inszenierung schon zwischen den Jahren gesehen: Katharina Bacht wirft sich in Dauer-Wut in die Titelrolle, hat aber dafür keinen Gegenpart auf Augenhöhe. Der Ibsen-Klassiker wurde mit mehreren Text-Einschüben zeitgenössischer Autorinnen angereichert, die Inszenierung testet aber zu viel aus und ist weniger überzeugend als ihr konzentriertes Sequel „Die Freiheit einer Frau“, das leider nicht eingeladen wurde.
Verzichten musste ich krankheitsbedingt leider auf die zahlreichen Gastspiele und Kurzinterventionen aus Mittel- und Osteuropa, die sich im „10 Treffen“ überschriebenen Rahmenprogramm mit Autoritarismus und Krieg beschäftigen. Auf dem Papier las sich vieles vielversprechend, die Augenzeuginnen Doris Meierhenrich, Elena Philipp und Esther Slevogt waren in ihren vernichtenden Urteilen jedoch sehr einhellig.
Bild: Sandra Then