Sehr selten sind die Fälle, in denen Regisseurinnen oder Regisseure mit einer solchen Urgewalt plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen und ein solches Film-Highlight auf die Leinwand zaubern, dass es schon in Cannes kaum noch ein anderes Gesprächsthema gab.
Wer hatte bis dahin schon von Coralie Fargeat gehört? Der Wikipedia-Eintrag der End-Vierziegerin verzeichnet einige Kurzfilme, eine TV-Serie und den Exploitation-Film „Revenge“ (2017). Mit „The Substance“ gelang ihr der späte Durchbruch, in Cannes gewann sie die Silberne Palme für das beste Drehbuch. Zurecht, denn die 141 Kino-Minuten sind ein bitterböser, bildgewaltiger Trip, der seinesgleichen sucht.
„The Substance“ ist aber nicht nur der fulminante Auftritt eines neuen Regie-Stars, sondern das beeindruckende Comeback eines schon fast vergessenen Hollywood-Stars. Demi Moore hatte in den 1990ern ihre große Zeit, war ein Sex-Symbol und bekam die großen Hauptrollen, bis es immer stiller um sie wurde und ihr Name nur noch im Zusammenhang von Skandälchen und der Beziehungskrise mit ihrem ToyBoy Ashton Kutcher fiel. Die 61jährige spielt Elizabeth Sparkle, deren Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood auch langsam bröckelt. Ihre Aerobic-Show für Hausfrauen im Frühstücks-TV kommt bei der Zielgruppe gut an, aber der bis über die Klischeegrenzen hinaus schmierige Produzent (Dennis Quaid) und seine grauen Aktionäre gieren nach Frischfleisch. Das sieht nun mal einfach besser aus, wenn die Kamera gierig in Großaufnahme an Oberschenkel und Schritt entlangfährt.
Es kommt, wie es in der Unterhaltungsbranche kommen muss: die Frau jenseits der 50 wird aussortiert. Ein extrem blauäugiger Assistenzarzt steckt ihr nach einem Unfall einen Zettel mit einem Tipp zu: eine geheimnisvolle Substanz, die man bestellen und in einem Schließfach abholen kann, sorgt dafür, dass aus dem Rückenmark wie bei einer Alien-Geburt ein jüngeres Ich hervorquillt: sexy, erfolgreich, begehrenswert ist diese Sue (Margaret Qualley). Sie verkörpert alles, was Elizabeth mal war und krampfhaft zurückerobern wollte.
Sieben Tage lang darf die junge Schöne die Welt erobern, dann hat die Ur-Matrix ihr ebenso langes Comeback. Das Alter ego wird mit Hilfe einer Nährlösung solange im Wachkoma gehalten, nach exakt einer Woche ist der Tausch fällig. Diese Balance wird von Sue nicht eingehalten, sie überzieht und betreibt Raubbau an ihrem älteren Ich, bis Demi Moore mit extremem Mut zur Hässlichkeit immer schneller welkt und fast schon komplett entstellt ist.
Immer wenn man glaubt, dass Forgeat nun keine Schippe mehr drauflegen kann, tut sie genau das: die Großeinstellungen im Kampf der beiden Frauen werden immer brutaler und blutiger, bis die große Silvester-Show in ein monströses Splatter-Finale mündet.
„The Substance“ ist herausragendes Genre-Kino über Sexismus, Selbsthass, Selbstverletzung und die vergebliche Jagd nach der ewigen Jugend.
Am 19. September 2024 startete der Film in den deutschen Kinos.
Bilder: MUBI