Im Debüt des Regisseurs und Drehbuchautors Halfdan Ullmann Tøndel schimmert viel Talent durch: die erste Hälfte funktioniert hervorragend als Kammerspiel, in dem sich Erwachsene mit betretenem Schweigen belauern. Elizabeth (Renate Reinsve) wird zum Elterngespräch in die Schule gebeten: ihr 6jähriger Sohn Armand, nach dem der Film zwar benannt ist, der aber erst in der letzten Einstellung ins Bild kommt, soll einen Mitschüler auf der Toilette sexuell bedrängt haben.
Vorsichtig schleichen die junge Lehrerin Sunna (Thea Lambrechts Vaulen), der Direktor und seine Stellvertreterin sowie die Eltern von Jon, der Opfer des Missbrauchs geworden sein soll, um den heißen Brei. Die Kamera von Pål Ulvik Rokseth ist ganz nah dran an den Balance-Akten der Erwachsenen, die bloß keinen Fehler machen wollen. Niemand will sich vorwerfen lassen, eínen sexuellen Übergriff toleriert zu haben, auch wenn die Zweifel wachsen, ob es tatsächlich so war, wie Jons Eltern empört schildern.
Diese erste Hälfte rechtfertigt auch die „Camera d´Or“ für das beste Debüt in Cannes, mit dem „Armand“ von Ullmann Tøndel im Mai 2024 nach seiner Premiere in der Sektion Un certain regard ausgezeichnet wurde. In der zweiten Hälfte tappt „Armand“ jedoch in mehrere Fallen: Elizabeth, die als exaltierte, alleinerziehende Mutter angelegt ist, wird zu sehr zur Renate Reinsve-Show. Diese divenhaften Kapriolen passen nicht mehr zum konzentrierten Kammerspiel. Außerdem hat der Jung-Regisseur sein Drehbuch mit zu vielen Konflikten der Erwachsenen überfrachtet, in denen sich der Plot immer mehr verliert: die Beteiligten kennen sich schon seit Jahrzehnten, sind verwandt/verschwägert und kreisen um einen geheimnisvollen Todesfall. Das Psycho-Drama kippt zu sehr in Kolportage und Mystery.
Dennoch zeigt sich in „Armand“ das Talent von Halfdan Ullmann Tøndel, einem Enkel des Künstlerpaares Ingmar Bergman und Liv Ullmann. Seine Deutschlandpremiere hat „Armand“ diese Woche beim Filmfest Hamburg, der bundesweite Kinostart ist für 16. Januar 2025 geplant. Kurz davor wird der Film auch bei der cineastischen Weltreise „Around the World in 14 films“ im Dezember 2024 zu sehen sein.
Bild: Charades