Wenn „Carmen“, eine der meistgespielten Opern des Repertoires, im Gorki Theater – etwas mehr als einen Steinwurf von der Staatsoper Unter den Linden entfernt – auf dem Spielplan steht, erwartet niemand einen traditionellen Musiktheater-Abend. Christian Weise bietet einen eigenwilligen Mix aus viel Cross-Gender-Slapstick-Dekonstruktion des Librettos, einer gehörigen Portion nachdenklichen Diskurstheaters, aber auch mit dem Best of der Ohrwurm-Arien dieser Georges Bizet-Oper.
Highlight des Abends ist eindeutig Lindy Larsson: in der Titelrolle performt er als Diva und Femme Fatale, tritt aber auch häufig aus dieser Rolle und thematisiert, wie die Figur als exotische Projektionsfläche über anderthalb Jahrhunderte die männlich dominierte Gesellschaft triggerte. Wieder einmal handelt es sich im klassischen Kanon um ein Femizid-Opfer.
Der von drei Live-Musikern (Jens Dohle, Steffen Illner, Dejan Jovanović) begleitete Abend hangelt sich am roten Faden des Librettos von Henri Meilhac und Ludovic Halévy entlang, das wiederum auf einer gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée basiert. Widerpart von Larssons Carmen ist Don José, den Via Jakeli wie schon bei ihrem Debüt am Haus in „Der Untertan“ als aufgeblasene Wurst toxischer Männlichkeit anlegt und dabei einen Kopf kleiner ist als die Angebetete.
Interessant wird es immer dann, wenn Larsson die Slapstick-Ebene verlässt, aus dem sechsköpfigen Ensemble herausdreht und unter die Oberfläche des Hochglanz-Klassikers bohrt. In den Ankündigungen dieser Premiere dominierte vor allem die Roma-Herkunft der Carmen-Figur, die sie mit Hauptdarsteller Larsson und Riah Knight (auf der Bühne als Micaëla und Teil der Schmuggler-Bande, Mitarbeit an Text und Dramaturgie) teilt. Auf charmante, unaufdringliche Art plaudert sich Larsson durch die Gedankengänge des Produktionsthemas, fragt nach alternativen Enden, die der Carmen dann doch verwehrt bleiben, und analysiert die Beziehungs- und Machtstrukturen der Figuren.
Mit 2 Stunden 15 Minuten ist die Opern-Dekonstruktion doch etwas zu lang geraten, was man auch an der Frequenz merkte, mit der die rüpelhaften Teile des Premieren-Publikums ihre Beine rücksichtlos gegen die Sitze der Vorderleute donnerten.
Bild: Ute Langkafel MAIFOTO