In den aktuellen Polykrisen-Aufwallungen von Corona bis Angriffskrieg blicken manche verklärt auf die scheinbar so goldenen und friedlichen 1990er Jahre zurück. Diese Menschen verdrängen, dass damals eine Welle rechtsextremer Anschläge das frisch wiedervereinigte Deutschland erschütterte.
Besonders markant: der Anschlag in der Nacht auf den 23. November 1992 auf mehrere von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. Damals starben drei Menschen: Bahide Arslan und die beiden Mädchen Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz.
„Die Möllner Briefe“ erzählt von diesem Trauma vor allem aus der Sicht von Ibrahim Arslan, der als 7jähriger überlebte und heute politische Bildungsarbeit gegen Rassismus an Schulen macht. Die Mordopfer waren seine Großmutter, seine Schwester und seine Cousine.
Martina Priessner, politisch engagierte Dokumentarfilmerin, die sich in früheren Werken z.B. mit den Gezi-Protesten gegen Erdogan in Istanbul befasste und für „Die Wächterin“ über eine syrisch-orthodoxe Nonne 2020 vom Goethe-Institut ausgezeichnet wurde, ließen die Angehörigen der Opfer sehr nahe an sich heran. Die Kamera ist dabei, wenn die Familie Arslan wütend darüber berät, dass Behörden mal wieder ihre Versprechen nicht schnell genug einlösen oder verschleppen.
Auslöser für den Film war, dass eine Studentin im Möllner Stadtarchiv per Zufall 2016 kistenweise Briefe und Solidaritätsadressen fand, die dort feinsäuberlich abgeheftet waren, von deren Existenz die nach dem Anschlag obdachlose Familie Arslan und andere Opfer 23 Jahre lang (!) nichts wusste.
Martina Priessners Film zeigt an diesem sehr konkreten Einzelfall, wie unempathisch deutsche Behörden oft handeln und mit welchen Traumata die Opfer rechtsextremer Gewalt leiden. Sehenswert für Schulunterricht oder politische Bildungsarbeit, seine Premiere hatte die Doku am 14. Februar 2025 im Panorama der Berlinale. Dort gewannen die „Möllner Briefe“ sowohl den Panorama Publikumspreis als auch den Amnesty-Friedensfilmpreis.
Bild: inselfilm produktion