Die Verstreuten

Ein tragikomisches Diskurs-Kammerspiel über die Verwerfungen und Risse unserer Gesellschaft hat Oliver Reese bei der kroatischen Dramatikerin Tena Štivičić in Auftrag gegeben. Seit 2014 leitet sie die Sparte „Drama“ am Kroatischen Nationaltheater ihrer Heimatstadt Zagreb, arbeitet daneben noch als Drehbuchautorin und Kolumnistin. Nach ihrem Dramaturgie-Studium an der Akademie der Dramatischen Künste in Zagreb studierte sie Szenisches Schreiben am Goldsmith College in London.

Dass die Autorin die Kniffe dieses Handwerks beherrscht, beweist sie in ihrem Drama „Die Verstreuten“. Wie aus dem Lehrbuch für Creative Writing steuern die Dialoge mit präzisem Timing auf Pointen zu. Streitgespräche des Quintetts aus kranker, alternder Mutter (Josefin Platt) und ihren vier quer über Europa verstreuten, erwachsenen Töchtern wechseln sich mit Monologen ab, in denen jede einzelne mehr über ihren Hintergrund erzählt und Tiefenschärfe bekommt. Selten kann man an einem Theaterabend so gut studieren, wie eine Autorin mit bekannten Instrumenten aus dem Baukasten ihr Stück entwickelt: Tena Štivičić schafft es dabei, auftragsgemäß viele Buzzwords der aktuellen Diskurse von den Tradewives und neurechten Influencerinnen über die querdenkenden Impfgegner*innen bis zu den Selbstzweifeln aktivistischer linker und liberaler Schichten angesichts der Weltlage elegant in einen Plot einzuflechten, so dass die Figuren am Ende doch mehr als Thesenträgerinnen und Abziehbilder sind, als diese anfangs erscheinen.

Das Stück steuert auf die große Konfrontation zwischen der queeren, in Berlin lebenden, zunehmend erfolglosen Theaterautorin Sasha (Kathrin Wehlisch) und ihrer Schwester Sabina (Paulina Knof) zu, die von der Krankenhaus-Köchin zur Kochkurs-Online-Influencerin wurde und diese Shows und Videos gemeinsam mit ihrem Mann dazu nutzt, rechte Botschaften vom Rollback der Emanzipation hine zur Bestimmung als Hausfrau und Mutter, zur Rückkehr zu kämpferischen, männlichen Werten und vor allem zu ihrer Skepsis gegen alle Pandemie-Maßnahmen inclusive Impfen viral gehen zu lassen.

Paulina Knof, Josefin Platt, Kathrin Wehlisch

Die Uraufführung von „Die Verstreuten“ im Neuen Haus des Berliner Ensembles lebt davon, dass Regisseurin Laura Linnenbaum mit fünf erstklassigen Spielerinnen und einigen Aushängeschildern des Hauses arbeiten konnte. Constanze Becker hat sichtlich Spaß an der kleineren Rolle von Sofia, die als wohlstandsverwahrloste Diplomaten-Gattin über ihre Selbsterfahrungstrips schwadroniert, ihren Lebensstil nach Ayahuasca-Trance angeblich radikal umstellen will, aber noch ihre teuren Designer-Kleider spazieren trägt. Per Video-Telefonie vom Flughafen Edinburgh ist die älteste Tochter Suzana (Bettina Hoppe) zugeschaltet. Die Inszenierung löst das so, dass Hoppe am Rand von Daniel Roskamps Bühne stets physisch präsent ist und immer wieder einfriert. Das Pointen-Ping-Pong und die schwesterlichen Rangkämpfe münden im Lauf der knapp zwei Stunden in den Aufeinanderprall sehr konträrer Gesellschaftsentwürfe und Weltbilder. Exemplarisch demonstriert dieser Abend die Gräben, die sich in der Polykrise der vergangenen Jahre vertieft haben und oft zum Scheitern der Kommunikation und dem Ende von Freundschaften/familiären Beziehungen führen.

Trotz des zu plakativen Endes, das alle Töchter im Regen stehen lässt, sind „Die Verstreuten“ ein Positivbeispiel, wie ein sichtlich am Reißbrett entwickeltes Drama zu aktuellen Diskursthemen dank handwerklicher Exzellenz der Autorin und eines starken Ensembles, das die Typen als kantige Figuren zum Leben erweckt, gelingen kann.

„Die Verstreuten“ wurde am 21. März 2025 im Neuen Haus des Berliner Ensembles uraufgeführt.

Bilder: Jörg Brüggemann

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