Die Gewehre der Frau Carrar/Würgendes Blei

Ihren Brecht hat Luise Voigt sehr genau studiert. Seinen Verfremdungseffekt treibt die junge Regisseurin „grandios konsequent auf seine überzeichnete Spitze“ lobte Anna Steinbauer in der SZ. Die ersten 50 Minuten ihrer „Die Gewehre der Frau Carrar“ lassen die Herzen von Theaterwissenschaftlern höher schlagen: es knistert und knackt ständig in diesem Live-Hörspiel auf der Marstall-Bühne des Bayerischen Staatsschauspiels, die ganz in Schwarz gekleideten und aschfahl geschminkten Schauspieler lassen die „R“s rollen, als wäre man in einer NS-Wochenschau aus den 1930ern, ihre Stimmen werden verzerrt und übersteuert, auf der Fichtenholz-Rückwand verschwimmen Projektionen zu grobkörnigen Schlieren, hinter dem Fenster ziehen als Scherenschnitt die Wolken und Möwen des Fischerdorfs vorbei.

Diese ungewöhnliche Regie-Handschrift war sicher ein entscheidender Grund, warum die Jury diesen Abend von der kleinen Spielstätte in die 10er Auswahl des Theatertreffens 2025 eingeladen hat: der Nerdfaktor ist hoch, der Mut, diesen Stil so bis zum Anschlag auszureizen, in der Tat bemerkenswert.

Jenseits des V-Effekts wird in den ersten 50 Minuten konventioneller Brecht gespielt: die arme Fischer-Witwe Carrar (Barbara Horvath) möchte sich am liebsten aus allem heraushalten und sorgt sich um das Leben ihrer beiden Söhne. Nein, ihre Söhne möchte sie nicht auf dem Schlachtfeld opfern! Da können ihr Bruder (Oliver Stokowski), die Freundin des Älteren (Naffie Janha) oder die Nachbarin (Evelyne Gugolz) noch so sehr drängen und anklagen.

Ihre pazifistische Haltung gibt die Carrar in Brechts Lehrstück erst auf, als die Leiche ihres blutüberströmten Sohnes hereingetragen wird. Nun greift sie gemeinsam mit ihrem Bruder und dem jüngeren Sohn zu den Waffen, entschlossen sich Francos Truppen im Spanischen Bürgerkrieg entgegenzustellen.

Mit lautem Krachen fallen ihr pazifistisches Weltbild und ihre Fischer-Hütte in sich zusammen. Eigentlich sollten die Bretter zu Boden donnern. Doch bei der heutigen für 3sat aufgezeichneten Vorstellung gab es noch einen zweiten V-Effekt. Zum Verfremdungs-Effekt kam der Vorführeffekt hinzu. Einige Latten wollten einfach nicht fallen, das technische Team musste kurz nachhelfen.

Dann konnte es mit dem zweiten, etwas kürzeren Teil weitergehen: Björn SC Deigner wurde vom Residenztheater beauftragt, den Brecht-Text weiterzuschreiben: „Würgendes Blei“ ist eine chorische Verwünschung der Leiden des Krieges. Während Horvath als Carrar in einer Video-Sequenz in voller Montur in die Schlacht zieht, sitzt sie vorne wie ein Häuflein Elend inmitten der Trümmer. Das restliche Ensemble redet im chorischen Wechsel auf sie ein.

Das letzte Wort gehört dem personifizierten Maschinengewehr (Florian Jahr), am Küchentisch klagt er darüber, dass er in einem ewigen Kreislauf der Kriege immer neues Blei herauswürgen muss. Mit einer Verwünschung kriegerischer Gewalt endet diese plakativere Hälfte des Abends.

Mit ihrer Carrar-Weiterschreibung kommentieren Voigt und Deigner natürlich nicht nur den alten Brecht-Text, sondern zielen auf die aktuelle Zeitenwende-Debatte. Es gibt nur wenige explizite Anspielungen auf tagespolitische Debatten, Europa wird als „Kontinent der Schwelbrände“ betrauert, Moskau in einem Vers erwähnt. Offenkundig hat aber auch unsere Gesellschaft in den vergangenen drei Jahren ihren Carrar-Moment erlebt. Aus seinem Gefühl der Sicherheit, in dem sich die Friedensdividende genießen ließ, ist der Westen hochgeschreckt. Statt „Nie wieder Krieg“ und strenger Rüstungskontroll-Vorschriften wurden Waffen ins Kriegsgebiet geliefert, um die Ukraine gegen den Aggressor zu unterstützen. Vor wenigen Jahren noch unvorstellbar. Das osteuropäische Land steht trotz milliardenschwerer Unterstützung mit dem Rücken zur Wand und wird von Donald Trump zu einem „Deal“ gedrängt, den deutsche Politiker von Roderich Kiesewetter bis Marie-Agnes Strack-Zimmermann als „Kapitulationsurkunde“ und „Diktatfrieden“ anprangern. Es war sicher ein zweites Argument für die Jury, diesen Abend nach Berlin einzuladen, dass er ganz unmittelbar zu zentralen politischen Streitfragen führt, die sich nicht so einfach beantworten lassen, wie es sich Brechts Lehrbuch-Weisheit erhoffte.

„Die Gewehre der Frau Carrar/Würgendes Blei“ hatten am 14. Dezember 2024 im Münchner Marstall Premiere und gastieren am 9./10. Mai 2025 auf der Hinterbühne des Hauses der Berliner Festspiele.

Bilder: Sandra Then

 

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