Die Jahre

Ganz still beginnt der Abend: Sieben Spieler*innen im Einheitslook mühen sich wortlos ab, aus den Pappschildern einen kompletten Satz zu bilden. An Florian Lösches Drehbühnen-Koloss erscheint schließlich der Satz „Alle Bilder werden verschwinden“, der erste Satz des Romans „Die Jahre“ von Annie Ernaux (2008, erst 2017 auf Deutsch).

Zwei Leitmotive von Jette Steckels Adaption sind darin bereits angelegt: Die knapp 2,5 Stunden sind ein Bilderrausch. Schnipsel aus öffentlichen Archiven, Aufnahmen aus Fotoalben und ikonische Zeitdokumente sind die Wegmarken für eine Zeitreise durch die Nachkriegsgeschichte. Ernaux gelang das Kunststück, anhand ihres eigenen autofiktionalen Erinnerns zugleich ein Gesellschaftspanorama zu erzählen. Steckels Inszenierung überführt den lakonisch-knappen Ton der Vorlage in einen soghaften Bilderreigen und macht mit großer Eleganz und einer Prise Humor spürbar, was es bedeutet haben mag, sich als Frau aus einfachen Verhältnissen in einer konservativen Klassengesellschaft zur Lehrerin hochzukämpfen.

Private Erlebnisse wie die Abtreibung durch eine „Engelmacherin“, über die Ernaux in „Das Ereignis“ noch ausführlicher reflektierte, kommt in diesem Geschichtspanorama ebenso vor wie die Aufbruchsstimmung der 1968er Jahre mit dem ersten Sit-In und den Vietnamkriegs-Protesten. Der Roman von Ernaux und die Bühnenfassung von Steckel und ihrer Dramaturgin Julia Lochte folgen der Chronologie von 1940 bis zum Jahr 2000, als sich die frisch pensionierte Frau dem rasanten Beginn der Digitalisierung und New Economy gegenübersieht.

Die Texte werden von einem Kern-Ensemble (Barbara Nüsse, Maja Schöne, Cathérine Seifert, André Szymanski, Rosa Thormeyer, Sebastian Zimmler, Jirka Zett) gesprochen, aus dem eine herausragt: Barbara Nüsse, 1943 geboren und somit nur drei Jahre jünger als Annie Ernaux. Ihre Auftritte als junges Mädchen und als altersweise Frau bleiben von diesem Abend besonders in Erinnerung.

Trotz aller Leichtigkeit und Komik hat der Abend auch viel Melancholie und Abschiedsstimmung. In das Septett mischt sich immer wieder fast das komplette restliche Thalia-Ensemble, das in dieser Form verschwinden wird. Wie bei Intendanz-Wechseln üblich übernimmt Sonja Anders einen Teil der Spieler*innen, auf vertraute Gesichter, die in alle Himmelsrichtungen verstreut werden, folgt ein jüngerer, diverserer Cast.

Einmal noch hat das Thalia Ensemble an diesem „Die Jahre“-Abend einen großen, gemeinsamen Auftritt. Nur noch vier Mal wird die Aufführung, die am 17. Mai 2025 Premiere hatte, am Alstertor zu sehen sein, zum allerletzten Mal am 5. Juli 2025 vor der Abschiedsparty des derzeitigen künstlerischen Teams am Thalia-Theater.

Mit „Die Jahre“ gelingt Intendant Joachim Lux, seiner Chefdramaturgin Julia Lochte und Jette Steckel, die an diesem Haus 17 Inszenierungen zeigte, ein bemerkenswertes, großes Finale! Auch die gestrige Vorstellung wurde mit minutenlangen Standing Ovations gefeiert. Vielleicht gibt es ja auch noch ein Wiedersehen mit diesem sehr besonderen Abend beim Theatertreffen im Mai 2026?

Bilder: Armin Smailovic

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