Auch fünf Jahre später schwärmen viele, die dabei waren, von diesem legendären Event: vier lange Abende nahm Drag-Queen Taylor Mac das Publikum im Haus der Berliner Festspiele mit auf eine Reise durch die US-amerikanische Geschichte aus queerer Perspektive: ein mal albernes, mal trauriges, insgesamt episches und mitreißendes Event, das ein Gemeinschaftsgefühl stiftete, war diese „A 24-Decade History of Popular Music„.
Dementsprechend groß waren die Erwartungen, als die Berliner Festspiele zum Auftakt der 2. Performing Arts Season ein neues, gemeinsam mit dem Sydney Opera House und der Brooklyn Academy of Music in Auftrag gegebenes Werk ankündigten. 55 Songs und vier Theater-Stunden waren angekündigt, in denen Mac und sein musikalischer Leiter Matt Ray queere Vorkämpfer*innen mit selbstkomponierten Songs ehren wollten.
Doch Taylor Mac unterläuft diese Erwartungen ganz bewusst und ruft nur 50 % seiner Entertainerqualitäten ab. Sicher: in opulenten, schillernden Kostüme schwelgt auch „Bark of Millions“ und musikalisch ist diese Tour de Force durch eine Stilvielfalt von italienischer Oper über Soul bis Rap beeindruckend und makellos. Aber die letzte Show von Taylor Mac lebte davon, dass er mit bissig-ironischen Kommentaren zwischen den Songs überleitete, Hintergründe aufzeigte und mit witzigen Anekdoten unterhielt, von denen man möglichst nichts verpassen wollte.
Ganz anders diesmal: die Sitznachbarin schaute im 10 Minuten-Takt auf ihr Smartphone und verschwand, als noch nicht mal die Hälfte der Show erreicht war. Wie beim Vorgänger-Event lud Taylor Mac auch diesmal dazu ein, dass jeder kommen und gehen könne, wie er/sie es für richtig halte. Das Ergebnis war ernüchternd: damals blieb die Stimmung im Saal konzentriert, auch wenn hier und da jemand zur Bar oder Toilette huschte. Diesmal ähnelte die Atmosphäre einem Taubenschlag oder einer Bahnhofs-Halle. Im Mittelteil der Show, als sich weiter Song an Song reihte, herrschte in den Foyers ein gewaltiger Trubel. Viele Grüppchen tranken Wein, unterhielten sich mit dem Rücken zu den aufgestellten Bildschirmen, die das Konzert live nach draußen übertrugen.
Erst nach den Songs über den schwulen japanischen Schriftsteller Yukio Mishima, der als nationalistischer Aktivist einen Putsch-Versuch startete, und die lesbische Sportlerin Violette Morris, die mit der Gestapo im besetzten Frankreich zusammenarbeitete, schnappt sich Taylor Mac das Mikro und ordnet diese Songs über „bad queers“ ein. Endlich gibt es auch mal eine kleine Anekdote, nämlich die Geschichte über das queerfeindliche Mobbing von Dragqueens in einer New Yorker Bar mit Piroggen, die aber auch schon Teil des Programms von 2019 war, wie Taylor Mac ehrlicherweise lächelnd anfügt.
Bis auf diese kurze Zwischen-Conférence rauscht Song nach Song kommentarlos vorbei. Nur 10 % all der besungenen Vorbilder, meist US-amerikanischen Queer- und Trans-Aktivist*innen, sind auch hierzulande bekannt. So bleibt dieses vierstündige Konzert über weite Strecken hinter der vierten Wand, ausgerechnet bei Taylor Mac, der es wie kaum ein anderer Performer versteht, eine Beziehung zu seinem Publikum aufzubauen, auf die Stimmung im Saal einzugehen und ein Gemeinschaftserlebnis zu stiften. Doch diesmal ging er ganz bewusst einen anderen Weg.
Bild: © Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn