Wiedergutmachungsjude

In klarer, nüchterner Sprache schrieb Daniel Arkadij Gerzenberg über den sexuellen Missbrauch, den er als 17jähriger durch seinen früheren Kinderarzt erlebte. Das 2023 bei Matthes & Seitz erschienene Langgedicht „Wiedergutmachungsjude“ ist trotz seiner Versform nicht sehr weit von Stil und Methode autofiktionaler Erinnerungsprosa wie von Annie Ernaux.

Im Studio Я des Gorkitheaters sitzt er gemeinsam mit Regisseur Dor Aloni, der den Abend szenisch eingerichtet hat, an einer Festtafel. Im Hintergrund flimmern Bilder einer jüdischen Beschneidungszeremonie, unterbrochen von markanten Text-Passagen, die nicht nur live gesprochen, sondern zur Verstärkung an die Rückwand projiziert werden.

Neben dem Missbrauch ist das Judentum der zweite Motiv-Strang des eine Stunde kurzen Projekts aus der Reihe „Fremde Poesie?“. Gerzenberg wurde 1991 in Hamburg als Sohn jüdischer Kontingentflüchtlinge geboren, die kurz vor dem Auseinanderfallen der UdSSR nach Deutschland übersiedelten. Die Mutter impft ihrem Sohn zweierlei ein: nicht über sein Judentum zu sprechen, sie traut dem Land der Shoah-Täter weiterhin nicht, und fleißig zu üben, er soll in ihre Fußstapfen als Konzertpianist treten.

Die beiden zentralen Themen des Textes kreuzen sich in der Figur des Kinderarztes, der sich betont philosemitisch gibt und versucht, eine Freundschaft mit dem Jungen aufzubauen. In einer kurzen Szene wird die These vom „Versöhnungstheater“, mit der Max Czollek, Kurator mehrerer Festivals auf der Gorki-Studiobühne, ausdrücklich angesprochen. Eine bittere Pointe dieses geheuchelten Versöhnungstheaters ist, dass der Philosemitismus im konkreten Fall in einen sexuellen Übergriff mündete, den Gerzenberg zwar anzeigte, der aber straflos mit Einstellung des Verfahrens endete.

Während sich Gerzenberg meist auf die nüchternen Fakten und das Aufzählen der psychischen Folgen von Traumatisierung bis Bindungsangst konzentriert, bringt sein Co-Performer Dor Aloni, der mit dem bissigen Stand up-Format „Hitler Baby One More Time“ bekannt wurde, kurze Momente komödiantischer Auflockerung ein. Insgesamt gleicht die minimalistische Studioproduktion jedoch stark einer szenischen Lesung.

„Wiedergutmachungsjude“ hatte als 3. Teil der Reihe „Fremde Poesie?“ am 28. September 2024 im Gorki-Studio Premiere.

Bild: © Ute Langkafel MAIFOTO

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