Eine Zeitreise in die späten Nuller-Jahre unternimmt das DT Berlin mit dem Well-made-Kammerspiel „Das Dinner“. Zwar seufzt Claire Lohmann (Maren Eggert) zu Beginn: „Das wird heute kein entspannter Abend“, doch hier zerbrechen nur die Fassaden des Bürgertums. Die Welt schien damals noch übersichtlicher und nicht ganz so aus den Fugen.
Ein großer Hit waren damals, landauf, landab, die Edelboulevard-Salon-Komödien von Yasmina Reza, allen voran ihr Klassiker „Der Gott des Gemetzels“ (Züricher Uraufführung beim tt 2007, Hollywood-Verfilmung 2011). Zwei gutbürgerliche Paare, die angesichts von Grenzüberschreitungen ihrer Söhne, erst noch ganz kultiviert um den heißen Brei reden, dann aber zunehmend die Fassung verlieren, stehen auch im 2009 erschienen Roman „Het Diner“ (Deutscher Titel: „Angerichtet“) im Zentrum.
Der Teflon-Politiker Serge (Bernd Moss) steht mitten im Wahlkampf. Es gilt, den Aufstieg des Rechtspopulisten Geert Wilders aufzuhalten. Denkbar ungelegen kommt deshalb, dass sein Adoptiv-Sohn Yuri und Michel (Ernst-Busch-Student Carlo Krammling), der Sohn seines Bruders Paul (Ulrich Matthes) eine Obdachlose angezündet haben. In einer Sparkassen-Filiale lag sie auf dem Boden und verbreitete den unangenehmen Gestank, den man auch aus ähnlichen Situationen im täglichen Leben kennt.
Kellner Andri Schenardi erklärt jedes noch so kleine Salatblättchen der raffinierten Kreationen des Nobel-Restaurants und spreizt sich in seiner Kultiviertheit. Der berufsunfähige ehemalige Lehrer Paul (Matthes) reagiert zunehmend schnippisch und genervt), auch Schwägerin Babette, die Wiebke Mollenhauer etwas zu sehr als Karikatur anlegt, zeigt immer wieder demonstrativ, dass sie ihren Abend lieber anders verbringen würde, doch ihre jeweiligen Partner Claire (Eggert) und Serge (Moss) wahren die Fassade und versuchen die Wogen zu glätten.
Die erste Hälfte des Kammerspiels gehört vor allem Uli Matthes, der in der FAZ als „großer Virtuose des einfühlenden Realismus“ gerühmt wurde. Er genießt es sichtlich, endlich mal wieder die Register seines Könnens zu ziehen und in die Nuancen von Ekel und Angewidertsein über das snobistische Gehabe seines Bruders und Kellners einzutauchen. Zugleich darf er immer wieder aus der Handlung treten und dem Publikum als Erzähler neue Details über den Kriminalfall zuraunen, der bislang noch unter dem Teppich gehalten wird. Durch diesen Kniff, der dem Erzählstil des Romans folgt, wird die Theaterfassung von Regisseur Dömötör und DT-Dramaturgin Karla Mäder nicht ganz so glatt wie die Hollywood-Film-Version von 2017 mit Richard Gere, die Glamour auf den roten Teppich der Berlinale brachte, aber sonst kaum Spuren hinterließ.
Als zum Dessert die Wahrheit auf dem Tisch liegt, prallen die Gegensätze frontal aufeinander: Serge hat die eigene Karriere als Spitzenkandidat im Blick und will es nicht riskieren, mit der tickenden Zeitbombe des unaufgedeckten Totschlags einer Obdachlosen durch seinen Sohn und seinen Neffen anzutreten. Er plant seinen Rücktritt und will Yuri und Michel ihrer gerechten Strafe zuführen. Das ruft den Rest des Trios auf den Plan. Vor allem Claire, die bis dahin recht stumm und abgeklärt daneben saß, zeigt nun ganz andere Seiten und demonstriert die Grausamkeit, zu der eine Mutter fähig ist, die um die Zukunft ihres Sohnes kämpft. Als eine unnahbare Mutter, hinter deren Fassade es bis zum Gefühlsausbruch brodelt, ist Eggert auch im Anfang Oktober gestarteten Kinofilm „Der Spatz im Kamin“ von Ramon Zürcher zu erleben. Ihr gehört die zweite Hälfte des Abends, bis sie mit ihren Lieben ganz entspannt auf der Couch lümmeln und die Pizza vom Lieferservice in sich hineinmampfen darf.
Mit „Das Dinner“ liefert Iris Laufenberg nach vielen Abenden, die sich von den Vorgängern Bernd Willms/Oliver Reese und Uli Khuon abgrenzen und ein jüngeres, weibliches Publikum ansprechen, eine Well-made-Inszenierung, die das bürgerliche Stammpublikum in ihrer Lebensrealität abholt und mit einem handwerklich makellosen, stargespickten Edelboulevard-Kammerspiel zurück ins DT lockt. So voll war das DT in letzter Zeit selten, alle Vorstellungen bis Weihnachten sind schon jetzt ausgebucht, aber so in Ehren ergraut waren die Sitznachbarn auch schon lange nicht mehr.
Bilder: Thomas Aurin