Das zweite völlig überbuchte Event dieses Wochenendes neben Florentina Holzingers „Sancta“ war das Gastspiel von Gisèle Vienne mit „Crowd“ in den Sophiensaelen. Im Rahmen einer gemeinsamen Werkschau des Freie Szene-Hauses mit dem Haus am Waldsee und dem Georg Kolbe-Museum war diese Techno-Slow-Motion-Performance nun an vier ausverkauften Abenden noch einmal in Berlin zu erleben.
Chris Dercon lud „Crowd“ bereits im Juni 2018 kurz nach der von den Wiener Festwochen koproduzierten Premiere an die Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz ein. Als Highlight zum Abschluss seiner ersten Spielzeit war dieses Gastspiel damals gedacht. Bekanntlich war der Intendant leider schon nicht mehr im Amt, als die Auführung stattfand.
Für alle, die dieses Event wie ich damals verpasst haben, gibt es zum einen die Dokumentation „Si c’était de l’amour/If It Were Love“ von Patric Chiha, die im Panorama der Berlinale 2020 lief und das Volksbühnen-Gastspiel der Choreographie meisterhaft einfängt. Etwas banal sind allerdings die Interviews mit den Tänzerinnen und Tänzern über ihren Alltag.
Zum anderen gab es nun die zweite Chance, „Crowd“ in einem neuen Rahmen zu erleben. Statt der einschüchternd-riesigen Volksbühne waren diesmal die intimeren Sophiensaele, wo das Publikum ganz nah an der Performance dran sein kann, die Spielstätte.
Dunkel liegt die leere Bühne da, während das Publikum freie Plätze sucht. Als das Licht langsam aufblendet und die ersten Tänzerinnen und Tänzer sichtlich müde hereinschlurfen, ist zu erkennen: der Sand ist übersät mit leeren Flaschen, Dosen, Zigarettenkippen. Hier ging gerade erst eine wilde Party zuende.
In Zeitlupe, dem signature move der Choreographien von Gisèle Vienne, beginnt das nach und nach hereintröpfelnde Ensemble, zu tanzen. Zu den Techno-Beats von Underground Resistance und weiteren DJs strecken sie die Arme, beginnen zu zucken und zu zappeln. Die erschöpften, schlaffen Individuen finden sich zu kleineren Gruppen zusammen. Langsam pumpen sich ihre Körper mit neuer Energie voll.
Die „Crowd“-Choreographie zeichnet den dramaturgischen Bogen von der Erschöpfung über die Ekstase zurück zur Erschöpfung nach. Auf dem Höhepunkt blicken wir in viele strahlende, ausgelassene Gesichter, aber auch in manche vor Aggression verzerrte Mienen. Im halbdunklen Hintergrund scheinen zwei Jungs mit Testosteron-Überschuss in eine Schlägerei verwickelt. Oder ist es doch nur Spaß?
Vienne ließ dies in ihrer mittlerweile sieben Jahre alten Choreographie bewusst offen. „Crowd“ bleibt für das Publikum dennoch wesentlich zugänglicher und auch für den Mainstream anschlussfähiger als ihr jüngstes Werk „Extra Life“, mit dem sie im Mai 2024 erstmals zum Theatertreffen eingeladen war. Während „Crowd“ bei aller latenten Aggressivität auch phasenweise Optimismus und Lebensfreude ausstrahlt, ist „Extra Life“ eine depressive Meditation über Traumata und Verdrängung, die im sich leerenden Saal des Potsdamer Hans Otto-Theaters viel Beklemmung hinterließ.
Die beiden Ausstellungen „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“ im Haus am Waldsee und „Ich weiß, dass ich mich verdoppeln kann – Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde“ im Georg Kolbe-Museum sind noch bis 12. Januar bzw. 9. März 2025 zu sehen.
Design: @DACM/Gisèle Vienne; Bild: @Estelle Hanania @ VG BildKunst-Bonn, 2024