Zwei Mal setzt Jürgen Kuttner zu einem seiner Monologe an, die vom Hundertsten ins Tausendsten kommen. Vorne an der Rampe fühlt er sich am wohlsten, wenn er von Fundstück zu Fundstück springen kann. Wärmste Empfehlungen wie für Lutz Pehnerts Biopic „Bettina“ (2022), eine von Thomas Braschs Lebensgefährtinnen, reihen sich dann an Kalauer. Das ist das Markenzeichen des Kuttner-Stils, der in den Videoschnipsel-Abenden „Von Mainz bis an die Memel“ an Castorfs Volksbühne Kult wurde und nach einem DT-Exil-Intermezzo dort wieder zu erleben ist.
Doch für „Halts Maul, Kassandra!“, eine Hommage an Thomas Brasch, den Dichter und Dissidenten, der zwischen allen Stühlen landete, wird dieser Stil zur Belastung. Kuttner, wie immer selbst mitten im Getümmel, und sein Co-Regisseur Tom Kühnel, der vom Rang aus zusah, haben sich in Uli Khuons Ära am DT einen Namen mit Befragungen und Montagen der deutsch-deutschen Zeitgeschichte gemacht: mal albern, mal sperrig für Spezialisten, mal ein stets ausverkaufter Überraschungshit wie „Forever Yin, Forever Young“.
In die Kategorie sperrig und für Spezialisten fällt der neue Brasch-Abend, der wenige Monate vor dem 80. Geburtstag des 2001 nach langer Schaffenskrise früh Verstorbenen auf der großen Bühne des DT herauskam. Etwas zu groß ist die Bühne für den Plauderton und die skurrilen Suchbewegungen einer Kuttner/Kühnel-Produktion, die üblicherweise in der intimeren Kammer aufgeführt werden, wo auch dieser Abend ursprünglich herauskommen sollte.
Vor allem in der ersten Hälfte des mit fast drei Stunden sehr langen Abends wirkt „Halts Maul, Kassandra!“ noch wie eine unfertige Materialsammlung aus dem Zettelkasten. Typische Kuttner/Kühnel-Stilmittel wie LipSync zu Videos/Filmausschnitten stehen neben Lyrik aus Braschs Werk und Songs von Rio Reiser oder DDR-Bands. Ohne Kontext taucht ein Schnipsel nach dem nächsten auf und ragt wie ein Fremdkörper aus einer längst untergegangenen Zeit herüber. Aus welchem Prosatext, Film oder Gedicht der jeweilige Schnipsel stammt, wird zwar meist brav als Übertitel eingeblendet, macht die Sache aber für das Publikum nicht wesentlich anschlussfähiger und recht zäh.
Als „Mischung aus Geschichts-Séance und schriller Brasch-Revue“ lobte Esther Slevogt den Abend in ihrer begeisterten Nachtkritik. Für eine Revue ist das Treiben des Sextetts, das oft in Harlekin-Kostümen auftritt, nicht munter und rauschhaft genug, sondern ein zu holpriges Abhaken aneinandergeklebter Schnipsel. Für eine Séance fehlt die atmosphärische Dichte. Am ehesten gelingt dies am Ende von „Halts Maul, Kassandra!“, als die Texte deutlicher aufeinander Bezug nehmen und sich auf das schwierige Verhältnis des Dissidenten-Sohns Thomas zu seinem Kulturminister-Vater Horst Brasch konzentrieren. Die Briefe/Briefentwürfe werden durch Passagen aus dem Roman der Schwester Marion Brasch „Ab jetzt ist Ruhe“ (2012) ergänzt.
Sie war natürlich auch gestern im Publikum und bereits vor acht Jahren Co-Autorin der szenischen Collage „Die Brüder Brasch“, die sie mit Lena Brasch, bekanntlich Tochter von Marion Brasch und Jürgen Kuttner, in den DT-Kammerspielen entwickelte. Damals ging ich mit der Hoffnung aus dem Abend, dass Kuttner/Kühnel diesen Stoff für eine ihrer Revuen aufgreifen könnten. Viele Jahre später ist dies unter der Intendanz von Iris Laufenberg Realität geworden, aber aus den Fragmenten entsteht kein schlüssiges Monolog: der Abend wirkt stellenweise noch mitten im Montage-Prozess, wie eine Art Zwischenstand, der unter Zeitdruck auf die Bühne gebracht werden musste.
Bilder: Thomas Aurin