Die Augen funkeln wässrig, die Lippen zucken, schließlich kullern die Tränen über die Wangen von Wiebke Mollenhauer. In Großaufnahme kann das Publikum jede Regung in ihrem Gesicht studieren.
Die Rückkehrerin ins Ensemble des Deutschen Theaters Berlin sitzt auf einem spartanischen Stuhl am linken Bühnenrand, die Livekamera unerbittlich auf sie gerichtet. Die restlichen Spielerinnen (Maja Beckmann und Sasha Melroch) und Spieler (Benjamin Lillie und Steven Sowah) haben in der ersten Reihe des Parketts Platz genommen und lesen das Langgedicht „Gier“ von Sarah Kane aus dem Jahr 1998 vom Teleprompter in der Übersetzung von Marius von Mayenburgs, die für Thomas Ostermeiers Inszenierung aus dem Jahr 2000, also der 1. Spielzeit seiner Schaubühnen-Intendanz, entstand.
Getragene Klänge eines Streichertrios unterlegen die Gedanken-Fetzen und Emotionen der vier Sprecher*innen, die Kane nur A,B,C und M nannte. Sie erzählen von ihrer ungestillten Sehnsucht nach Liebe, ihrer Verzweiflung, von ihren Traumata, ihren Wunden und ihrem Schmerz. Ein Jahr nach Erscheinen ihres vierten Stücks nahm sich die britische Dramatikerin Sarah Kane das Leben.
Anfangs wirkt der Abend wie eine sehr strenge Versuchsanordnung, die jedoch im typischen Stil von Regisseur Christopher Rüping aufgebrochen wird. Das Quartett der Spieler*innen tritt zwischendurch auf die Bühne, umkreist und bedrängt die stumme Solistin Mollenhauer, Lillie liefert sich Mollenhauer in einem langen Nackt-Monolog aus, alle zusammen stimmen unvermittelt Popsongs wie „Barbie Girl“ aus den 1990ern an, der Entstehungs-Zeit des Textes, die mit ihrer Unbeschwertheit die Verzweiflung der Worte konterkarieren.
Bild: Orpheas Emirzas/Schauspielhaus Zürich
Kurz vor Schluss verschwindet Mollenhauer, laut über den Rest des Ensembles lachend, das unter Papiertüten-Masken weiter den Kane-Text performt. Minuten später taucht Mollenhauer in einem Live-Video auf, spaziert an der Charité vorbei zur Friedrichstraße – und nimmt bei den winterlichen Temperaturen ein Eisbad in der Spree. Rüping wird wieder mal seinem Ruf gerecht, spektakuläre Schlussbilder zu inszenieren. Vor Kälte bibbernd nimmt Mollenhauer den stärksten Applaus an ihrer Außenstation entgegen.
Für ihre Mimik zu „Gier“ wurde sie im vergangenen Jahr auch zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Die Inszenierung, die Rüping im März 2023 noch als Hausregisseur des Schauspielhauses Zürich herausbrachte, schaffte es auf die Shortlist zum Theatertreffen 2024, aber nicht in die 10er Auswahl. Beides gut vertretbar: der Ansatz, den Text mit der stummen Mimik der Hauptdarstellerin, die vermutlich gegen die Stimmen in ihrem Kopf ankämpft, ist ein ungewöhnliches, durchaus bemerkenswertes Konzept, das aus dem üblichen Stadttheater-Angebot heraussticht. Dennoch bleibt Rüpings Annäherung an Kane, die ihn als Jugendlichen tief bewegte, wie er im Programmheft-Interview erzählt, streckenweise zu sehr verkopfte Versuchsanordnung.
Nach dem Aus der Zürcher Intendanz Nicolas Stemann/Benjamin von Blomberg wurde die Inszenierung am 15. Februar 2025 in das Repertoire des DT Berlin übernommen. Bis auf Änderungen im Streichertrio ist die Original-Besetzung zu erleben. Nach „Einfach das Ende der Welt“ im vergangenen Jahr ist dies die zweite Berliner Übernahme einer Schweizer Rüping-Inszenierung.
Vorschaubild: Thomas Aurin