Lesbos – Blackbox Europa

Monatelang beherrschten die Hunderttausende Flüchtlinge, die sich über die Balkanroute auf den Weg in ein besseres Leben machten, die Medienschlagzeilen und die politische Agenda. Einer von ihnen ist Thalfakar Ali, der aus dem Irak geflohen ist, in einer Bar arbeitet und am Deutschen Theater Berlin im Projekt „Wechselstube“ mitwirkt. Von seinem Schicksal erzählt er im Recherchetheater-Stück „Lesbos – Blackbox Europa, das Regisseur Gernot Grünewald mit seinem Ensemble für die Box des Deutschen Theaters Berlin entwickelte.

Im Februar/März 2016 änderte sich die Lage: die Balkanroute wurde dicht gemacht. Die EU handelte mit dem türkischen Autokraten Erdogan einen höchst umstrittenen Deal aus. Das Ergebnis: die Zahl der Flüchtlinge, die es bis zur deutsch-österreichischen Grenze nach Passau oder gar bis zum Berliner LaGeSo schafften, ging drastisch zurück. Die Medien und die politische Debatte wandten sich anderen, scheinbar dringlicheren Themen zu. Aus den Augen, aus dem Sinn, aber längst nicht alles gut: die griechische Insel Lesbos entwickelte sich zu einem Auffanglager für gestrandete Flüchtlinge, die in überfüllten Provisorien wie Moria festsitzen.

Gernot Grünewald, der sich mit seiner Tübinger Inszenierung „Palmer – ein Political“ (2015) weit über Baden-Württemberg hinaus einen Namen als engagierter, politischer Regisseur gemacht hat, reiste mit seinem Regie-Team und den beiden Schauspielern Katharina Schenk und Božidar Kocevski im Sommer 2016 auf die bei deutschen Urlaubern beliebte Insel, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Schenk ist den Zuschauern, die regelmäßig in der Freien Szene unterwegs sind, ein Begriff. Sie gastierte z.B. mit dem raffinierten Rätsel-Mitmach-Theater „toxik“ von machinaX im HAU. Kocevski ist seit dieser Spielzeit am DT engagiert und hatte nach „König Ubu“ seinen zweiten Auftritt an diesem Haus. Ali durfte wegen seines prekären Aufenthaltstatus nicht mitreisen.

Sie führten zahlreiche Interviews mit Flüchtlingen, Helfern, staatlichen Institutionen und drehten Videomaterial, das an diesem 90minütigen Abend eingespielt wird. Sehr schlaglichtartig und leider auch oft zu sprunghaft montierten Grünewald und sein Team die einzelnen Bausteine. Am Ende ergibt sich aber doch ein deutliches Bild einer prekären Situation:

Die Schauspieler fühlten sich immer rat- und hilfloser, je länger sie sich hautnah vor Ort mit der Situation befassten. Katharina Schenk macht dies in zwei exemplarischen Situationen deutlich: als sie auf einem Friedhof, wo die Leichen der aus dem Meer gefischten Flüchtlinge verscharrt wurden, eine Schweigeminute vorschlägt, ist sie sich selbst klar darüber, dass dies nur eine hilflose, wohlfeile Geste ist. Sie weiß aber – genauso wenig wie wir im Publikum – keine angemessenere, bessere Reaktion. Später erzählt sie, wie sie einem Bustransport in das jetzt schon völlig überfüllte Lager Moria hinterherwinkte. Auch hier spürte sie, dass diese Reaktion wohl nicht so glücklich ist, aber immer noch besser, als völlig tatenlos zuzusehen.

Der Abend endet mit rhetorischen Fragen des Ensembles, die in den Wunden der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik bohren, und langen Kamera-Einstellungen von der Ägäis vor Lesbos, wo die Touristen mittlerweile fernbleiben.

Die schwierigste Frage wird offen angesprochen, bleibt aber ungelöst: Was passiert, wenn Erdogan den Bogen noch weiter überspannt? Dann wäre die EU gezwungen, die Kosequenzen zu ziehen, vor denen sie sich bisher noch drückt. Der heute schon vielen als schmutzig kritisierte Deal mit der Türkei würde platzen. Einen Plan B hat die Politik bisher nicht.

Als „Bonusmaterial“ gibt es im Programmheft einen klugen Text des vor kurzem verstorbenen polnischen Soziologen Zygmunt Baumann, der das ganze Dilemma gut auf den Punkt bringt.

„Lesbos – Blackbox Europa“ wurde am 26. Januar 2017 in der Box des Deutschen Theaters uraufgeführt. Weitere Informationen und Termine

Bild: Arno Declair

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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