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Es ist bereits eine kleine Tradition: Am Deutschen Theater Berlin sollten zum dritten Mal in Folge einige Gastspiele von osteuropäischen Bühnen präsentiert werden.

Corona durchkreuzte auch diese Pläne, aber immerhin konnte eine Online-Version realisiert werden. Die Eröffnung des dreitägigen Festivals zum Abschluss der Spielzeit bestritt ein besonders enger Kooperationspartner des DT Berlin: der russische Regime-Kritiker und Meister-Regisseur Kirill Serebrennikow, dessen „Decamerone“-Inszenierung nach zahlreichen Hürden kurz vor dem Lockdown endlich Premiere feiern konnte.

Nach ihrer Annäherung an „Kafka“, ihrem fulminanten „Machine Müller“-Gastspiel und dem politisch-ambitionierten, düsteren Triptychon „Who is happy in Russia?“ präsentierten das Moskauer Gogol Center und Serebrennikow diesmal eine Digital-Version des Stücks „Eine gewöhnliche Geschichte“. Diese Adaption des Romans von Iwan Gontscharow hatte bereits 2015 in Moskau Premiere und gehört leider zu den weniger überzeugenden Inszenierungen von Serebrennikow.

Digitales Gastspiel Gogol-Center Moskau Eine alltägliche Geschichte von Iwan Gontscharow Bild: Alex Yocu

Zu thesenhaft ist die angestaubte Romanvorlage aus dem Jahr 1847, die den Antagonismus zweier Prototypen vorführt: Hier der junge, romantisch-naive Sasha, den es aus der Provinz in die Hauptstadt zieht, dort sein zynisch-verbitterter Onkel Petr. Wortreich, aber handlungsarm entspannt sich der Konflikt der Lebensentwürfe und Generationen, der absehbar auf die völlige Desillusionierung des nach dem 2. Akt am Boden zerstörten Sasha zusteuert, bevor der Epilog einen Haken schlägt: Der Neffe Sasha hat sich zum smarten Strippenzieher gewandelt, der genauso gefühllos kalkuliert und eine Vernunftehe ohne romantische Gefühle eingeht, wie es sein Onkel immer forderte, während Petr plötzlich sentimental wird und in Sasha seinen Meister fand.

Mit Filip Avdeev, der auch im „Decamerone“-Reigen einen starken Eindruck hinterließ und hier den Sasha und seine Wandlungen verkörpert, hat Serebrennikow zwar einen starken Hauptdarsteller. Über fast drei Stunden kann er diese Inszenierung allerdings nicht tragen, der Inszenierung fehlt es an Spannungsbögen und spielerischen Momenten, zu ermüdend kreist sie um den beschriebenen Antagonismus.

Hervorzuheben sind noch die kleinen Songtexte zu Beginn und direkt nach der Pause, in denen politische Zustände in Russland sehr unverblümt kritisiert werden. Mehrfach wird zur „Vendetta“ aufgerufen und die Apathie der „Zombies“ angeprangert, die sich nicht gegen Machtstrukturen auflehnen. Von derart drastischen Passagen fühlte sich die Staatsmacht derart herausgefordert, dass Serebrennikow mit dubiosen Vorwürfen monatelang unter Hausarrest gestellt wurde und zum Schweigen gebracht werden sollte.

Die enge Kooperation zwischen DT Berlin und Gogol Center wurde auch mit einer Video-Spielerei fortgesetzt: Ilya Shagalov, der mit Kirill Serebrennikow regelmäßig als Videokünstler zusammenarbeitet, lud Regine Zimmermann und Helmut Moshammer aus dem DT-Ensemble und Yang Ge vom Gogol Center zu einer nur 13 Minuten kurzen, wie improvisiert wirkenden Arbeit ein: „Kleines Requiem„.

Als digitales Gastspiel wurde auch die neue Arbeit einer besonders vielversprechenden Regisseurin vorgestellt: Ewelina Marciniak machte bereits mit einem „Sommernachtstraum“ in Freiburg und der Adaption des Romans „Der Boxer“ am Hamburger Thalia Theater auf sich aufmerksam. Ich rechne deshalb fest mit einer Einladung zum Theatertreffen für diese junge polnische Regisseurin.

Der philosophisch-essayistische Roman „Im Herzen der Gewalt“, in dem Édouard Louis darüber reflektiert, wie er die Vergewaltigung durch einen Migranten verarbeiten soll, kommt Marciniaks Regiestil sehr entgegen: Das Abtasten und die vorsichtige Annäherung zwischen Édouard und Louis, deren Begegnung als einvernehmlicher Flirt beginnt, erzählt Marciniak als tänzerischen Pas de deux. Anders als bei Thomas Ostermeiers Inszenierung, die vor zwei Jahren an der Schaubühne Premiere hatte, wird die brutale Aggression, mit der dieser One-Night-Stand endet, in Marciniaks Bearbeitung nur angedeutet.

Sie arbeitet vor allem heraus, wie die Hauptfigur von allen Seiten Ratschläge bekommt und bedrängt wird. Ein Stimmengewirr prasselt auf ihn ein und erklärt ihm, was für ihn aus ihrer Sicht die beste Strategie zur Bewältigung des Erlebnisses ist. Sein Kampf um die Deutungshoheit steht im Mittelpunkt des Abends. Schwester, Freunde und Polizei umkreisen den Protagonisten auf einer engen Bühne, die unter Wasser gesetzt ist. Bis über die Knöchel stehen die Spieler*innen im Nassen und waten durch die Pfützen.

Ein besonderes Augenmerk legt die polnische Adaption des französischen Stoffes auf die Homophobie: Schon im Roman ist sie ein wesentlicher Strang, vor dem Hintergrund der von PiS-Regierung und katholischer Kirche geschürten Ressentiments wird sie noch deutlicher herausgearbeitet.

Unmittelbar nach „Im Herzen der Gewalt“ präsentierten die ukrainische Gruppe „TseSho“, die sich bereits im vergangenen Jahr mit einem Konzert in der Box vorstellten, und das Neue Künstlertheater als Live-Stream „Morph. Ein Wort-Konzert“. Die Berliner Künstler*innen, die sich während ihres Studiums an der HfS Ernst Busch kennenlernten und zum Teil auch am DT Berlin feste Engagements haben, entwickelten aus Schlagwörtern des Corona-Diskurses einen 50minütigen, lautmalerischen Sprachstrom. Oft sind es nur winzige Nuancen bei den Lauten und Begriffen, die sich ändern, aber die Bedeutung verschieben und den Strom vorantreiben. Die ukrainische Gruppe bekam das Material zugeschickt und bearbeitete die Klänge aus der Fremdsprache mit tänzerischen und musikalischen Improvisationen.

„Morph“ ist intellektuell-avantgardistische Konzeptkunst: wohl durchdacht, aber auch sehr anstrengend. Die monotone Stimme, die einen Begriff nach dem nächsten unerbittlich vorträgt, mutet den Hörer*innen einiges zu und macht den Livestream zu einem anstrengenden Erlebnis.

Schade ist, dass von fünf geplanten Gastspielen nur kurze digitale Adaptionen gezeigt werden konnten. Auf einem virtuellen Rundgang durchs Haus versteckten die CyberRäuber die kleinen Videos wie Ostereier, die oft erst auf den zweiten oder dritten Blick zu finden waren. Den stärksten Eindruck hinterließ der Director´s Cut von „28 Tage„. Der Wut-Chor der jungen Frauen, die von ihrem Menstruations-Zyklus erzählen, erinnert in seinem feministischem Empowerment und seinem frischen, rotzigen Ton sehr an den Stil des Berliner Gorki Theaters, ist aber eine Koproduktion von Teatr.doc und Moskauer Schule für Neues Kino, die in diesem Jahr für die „Goldene Maske“, das russische Pendant zum „Faust“ nominiert war. Von anderen Arbeiten wie „Queendom“ aus Ungarn oder „Hooligan: In the Field“ lässt sich leider nur erahnen, welche Kraft sie auf der Bühne entfalten.

Vorschaubild aus dem digitalen Gastspiel „Im Herzen der Gewalt“: Natalia Kabanowa

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