Kleiner Mann – was nun?

Die Einführung des Dramaturgie-Assistenten Johannes Nowak zu diesem fünfstündigen Castorf-Comeback-Abend möchte ich dem Publikum sehr ans Herz legen. Hier wird erläutert, welche Stoffe der Volksbühnen-Veteran diesmal verschneidet und welche gedanklichen Schneisen er während der Arbeiten schlug. Zusätzliche Orientierung bietet die Mitschrift der Konzeptionsprobe vom Juni, die im Programmheft abgedruckt ist.

Natürlich war nicht zu erwarten, dass Frank Castorf den Roman über die Liebe von Pinneberg und seinem Lämmchen, mit der sie die Weltwirtschaftskrise und das Scheitern der Weimarer Republik gemeinsam durchstehen müssen, als Sozial- und Historien-Melodram nacherzählt, wie ihn HakanSavaş Mican am Gorki Theater historisierend und nah an der Vorlage inszenierte. Bis die ersten Passagen aus dem Roman auf die Bühne kommen, dauert es aber doch eine gefühlte Ewigkeit.

Äußerst zäh ist die erste dreiviertel Stunde geraten: die sieben Protagonisten sind frontal an der Rampe aufgereiht. Dies sind neben den Berliner Ensemble-Mitgliedern Jonathan Kempf, Pauline Knof, Maeve Metelka und Gabriel Schneider, die meist noch recht neu am Haus sind, zwei Gäste: Artemis Chalkidou, die in den 2000er Jahren an Castorfs Volksbühne spielte, später mit Sebastian Hartmann ans Leipziger Centraltheater ging und zuletzt vor allem in der Freien Szene und TV-Serien zu erleben war, sowie Andreas Döhler, der 2017 vom DT ans BE herüber wechselte und dem Haus mittlerweile als fester Gast verbunden ist, wann immer es gilt, seine Stimmgewalt und körperliche Wucht in eine neue Castorf-Inszenierung einzubringen.

Die Fremdtexte, die wir zum Auftakt hören, stammen von Fallada. Es handelt sich um sein expressionistisches Frühwerk „Die Kuh, der Schuh, dann Du“ und autobiographische Texte zu seiner Alkohol- und Schmerzmittelabhängigkeit, die ihn jahrzehntelang begleitete und das Leben kostete. Jonathan Kempf brüllt und deklamiert, der Rest steht brav neben ihm. Die Frauen tragen die üblichen Glitzer-Kreationen von Adriana Braga Peretzki, die Bühne von Aleksandar Denić bleibt ungewohnt, geradezu provozierend leer. Länger und länger ziehen sich die Fremdtext-Passagen, dazwischen stimmt das Ensemble immer wieder in den Refrain des Faber-Songs „Nie wieder Kokain“ ein.

Andreas Döhler und Pauline Knof

Nach dieser schleppenden ersten Stunde nimmt der Abend langsam Fahrt auf und in den langen Sequenzen, die das Live-Kamera-Trio Andreas Deinert, Kathrin Krottenthaler und Harald Melwig aus der Unterbühne überträgt, stellt sich noch etwas vom erhofften Castorf-Nostalgie-Sog ein. In den Schlüsselszenen aus dem Roman darf jeder mal glänzen: Chalkidou/Döhler spielen Mama Pinneberg und ihren Liebhaber Jachmann, Glanzlicht nach der Pause ist die Szene, in der Gabriel Schneider von Pauline Knof als Schlüter-Diva herumgescheucht wird und dennoch keinen Cent verdient, so dass er sich wütend auf sie stürzt und die am Boden röchelnde Knof Gelegenheit hat, das vielkritisierte Frauenbild aus Castorf-Inszenierungen mit einem trockenen „Danke Gabriel, genau so will Castorf mich sehen“ aufs Korn zu nehmen.

Dazwischen werden noch allerlei weitere Fremdtexte reinmontiert, wie so oft von Castorfs Hausheiligem Heiner Müller, nämlich die Farce „Die Schlacht“, die in den 1970er Jahren bei einem der Spektakel von Castorfs Vorgänger Benno Besson an der Volksbühne uraufgeführt wurde, und viele weitere Referenzen aus Falladas realem Leben. Castorfs Konzept ist durchaus schlüssig: allzu niedlich und sentimental empfindet er die Romanvorlage von 1932, die damals zum Bestseller avancierte und in der krisenhaften Zuspitzung der ihrem Untergang entgegen taumelnden Weimarer Republik einen Hoffnungsschimmer verbreiten wollte. Dem setzt er die ganze Wucht des Müllerschen Geschichtspessismus mit den marschierenden SS-Truppen aus der „Schlacht“ und einen von William Minke klug kompilierten Punk- und Protest-Soundtrack entgegen, der von Ernst Buschs Arbeiterliedern zu roter Fahne bis zum Anti-Hartz-IV-Song der Kassierer von 2003 reicht, die sich von der rot-grünen Agenda 2010 verraten fühlten und diesen Vorwurf sehr plakativ herausbrüllen. Das zentrale Scharnier in Castorfs Konzept ist aber, dass er den Fallada-Roman mit der Biographie des Autors in Beziehung setzt. Zur „Perfect Day“-Hymne von Lou Reed gehen Döhler und Knof am Ende nicht einer heimeligen Zukunft entgegen, die Pinneberg und Lämmchen mit ihrem Murkel im Kleinfamilien-Idyll abseits der stürmischen Welt erträumen. Vor einem ironisch-kitschigen Sonnenuntergang wird diese Schluss-Szene des Romans mit dem Lebensende von Hans Fallada und seiner Frau Ursula verschnitten: sie gab ihm während einer gemeinsamen Entziehungskur aus Versehen eine tödliche Überdosis und wurde einige Jahre später in einem namenlosen Sozial-Grab beerdigt, wie Knof referiert.

Andreas Döhler und Artemis Chalkidou

Dieser gedankliche Bogen, den Castorf schlägt, ist sowohl interessant als auch schlüssig, allerdings für das Publikum mit der gewohnten Dosis „Tortur-Theater“, wie es Rüdiger Schaper in langjähriger Hassliebe im Tagesspiegel labelt, verbunden. Etwas mehr als fünf Stunden werden diesmal verabreicht. Nebenstränge, die ins Nirwana ausufern, verkneift sich der Altmeister in seiner ersten Berliner Inszenierung nach drei Jahren zwar. Dennoch klaffen die Einzelteile seines Konzepts in den langen Stunden am Schiffbauerdamm auseinander, so dass die dramaturgische Stringenz des schlüssig Ersonnenen unnötig leidet.

Bilder: Just Loomis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert