Die Seherin

Drastische Schockeffekte sind ein Markenzeichen der Arbeiten von Wiener Festwochen-Intendant Milo Rau. Das Abschlachten von „Medea´s Kinderen“ in Großaufnahme führte vor wenigen Wochen beim Gastspiel zu Ohnmachtsanfällen.

Nichts für schwache Nerven und zarte Gemüter ist auch die neue Koproduktion „Die Seherin“ mit der Berliner Schaubühne: als fiktive Kriegsfotografin schildert Ursina Lardi eine traumatische Vergewaltigung auf dem Kairoer Tahrir-Platz in allen brutalen Details, in Großaufnahme erleben wir auch eine Selbstverletzung an der Wade im Florentina Holzinger-Stil. Die Grausamkeiten der islamistischen Fanatiker von Daesh durchlitt Azad Hassan, ein Lehrer aus Mossul, als diese 2014 in den Wirren des Bürgerkriegs mit der Errichtung eines Kalifats begannen. In Videoaufnahmen erzählt er von seinem Schauprozess, mit Lardi wanderte er vor einigen Monaten an wichtigen Stationen seines Lebens vorbei, ganz am Ende kommt er auch live neben Lardi auf die Bühne: Daesh hackte ihm einen Arm ab, noch drakonischeren Strafen entkam er nur knapp, den amputierten Stumpf zeigt er erst spät im Lauf des 90minütigen Abends, versteckt ihn zuvor in der Tasche.

Wie ebenfalls aus früheren Arbeiten bekannt, verschränkt Rau diese Kriegsfotografinnen Doku-Fiktion mit Motiven aus der griechischen Mythologie. Lardis Figur spiegelt sich immer wieder in Kassandra, Anspielungen auf den „Philoktet“ von Sophokles sind eingestreut ebenso wie Erinnerungen des Regisseurs an seine Altgriechisch-Stunden in einem Schweizer Gymnasium. Doch diese Motive sind nicht schlüssig eingebunden, zu viel bleibt an diesem Abend Pose und Behauptung.

Eine weitere Schwäche des Abends ist, dass die Reflexion über die gezeigten Brutalitäten zu kurz kommt. Dies gelang Alex Garland in seinem packenden Drama „Civil War“ im vergangenen Kino-Jahr besser, der zugleich eine sehenswerte Dystopie ist, wohin sich Trumps Amerika entwickeln könnte.

„Die Seherin“ wurde am 5. Juni 2025 im Odeon Theater im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführt und wird ab 19. September 2025 im Repertoire der Berliner Schaubühne zu sehen sein.

Bilder: Nurith Wagner Strauss

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