Es wäre einr große Überraschung gewesen, wenn dieser Roman nicht auf die Gorki-Bühne gekommen wäre. Zu perfekt passt „Vatermal“ ins Repertoire und ins Muster früherer Erfolge.
„Vatermal“ ein Debütroman eines langjährigen Weggefährten des Hauses: Autor Necati Öziri ist wie Sasha Mariana Salzmann ein ehemaliger Leiter der Studiobühne, regelmäßig wurden seine Stücke wie „Get Deutsch or Die Tryin’“ oder die Kleist-Überschreibung „Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch„ hier uraufgeführt.
Perfekt zur Gorki-Marke passt der Roman, der im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, vor allem thematisch: Wie so oft am Gorki ist auch „Vatermal“ eine postmigrantische Geschichte, die von den Schikanen auf dem Ausländeramt gegen türkische Migrant*innen erzählt, die in der alten Bundesrepublik „Gastarbeiter“ genannt wurden. Der an einer Autoimmunerkrankung leidende Sohn Arda (Doğa Gürer) lässt im Krankenhausbett sein Leben Revue passieren.
In Tolstois „Anna Karenina“ lernten wir, dass jede Familie auf ihre ganz eigene Art unglücklich ist. In den kurzen Erinnerungssplittern, die sich auf der Gorki-Bühne nicht so recht zu einem Puzzle zusammenfügen wollen, erleben wir eine besonders unglücklich-dysfunktionale Familie. Zwischen Schwester Aylin (Flavia Lefèvre) und Mutter Ümran (Sesede Terziyan) herrscht Eiszeit, sie haben seit Jahren keinen Kontakt und kommen nur abwechselnd zum Krankenbesuch. In Rückblenden erfahren wir vom schwierigen Ankommen der Mutter im fremden Land, vom plötzlichen Verlassenwerden durch den Erzeuger, der sie mit den beiden Kindern als Alleinerziehende zurücklässt, von ihrem McDonalds-Job und von ihrem Alkoholismus. Sie ist die heimliche Hauptfigur des zweistündigen Abends, der doch noch eine Überraschung bietet.
Hakan Savaş Mican, auch ein langjähriger Weggefährte von Shermin Langhoff, inszeniert den Stoff nicht als melancholisches, intimes Kammerspiel am Sterbebett, sondern verlegt die Handlung nach einem kurzen Video-Intro auf eine samtrote Show-Bühne. Die Erzählung vom prekären Aufwachsen und dem tristen Alltag mit regelmäßigen Vorladungen von Herrn Kowalski beim Ausländeramt wird durch glamouröse Auftritte gebrochen. Arda trägt einen Smoking, links und rechts der Showtreppe haben sich die Livemusikerinnen Kristina Koropecki und Mascha Juno postiert, sie sind ebenso ganz in Rot gekleidet wie die beiden Spielerinnen und untermalen das postmigrantische Sozialdrama mit türkischen Songs, in die vor allem Sesede Terziyan wieder voller Wehmut eintaucht, und Evergreens aus der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.
Die Figuren und ihre Probleme wirken sehr vertraut. Ähnliche Konflikte und ähnliche Lebensläufe haben Gorki-Stammgäste schon so häufig gesehen, dass die „Vatermal“-Adaption wie die nächste Episode einer Fortsetzungsserie anmutet. Nahe kommen die Figuren jedoch diesmal nicht. Dies liegt vor allem daran, dass das Trio in den Schnipseln auch alle weiteren Nebenfiguren performt, so dass ohne Beipackzettel/Stückfassung nicht in jeder Szene klar ist, wer hier zu wem spricht. So wirkt dieser „Vatermal“-Abend bei all seinem Sozialrealismus streckenweise auch wie der Fiebertraum eines Sterbenden.
„Vatermal“ wurde am 21. Dezember 2024 am Gorki Theater uraufgeführt.
Bilder: Ute Langkafel MAIFOTO